Leseprobe


Mit diesem Buch lade ich Dich herzlich dazu ein,
in Gandharvas zauberhafte Welt einzutauchen.
Ich habe bewusst Wert darauf gelegt,
gegen die,
beklagenswerter Weise in vielen Märchen zu findende,
zerstörerische Gewalt,
eine besonnene Lösung darzubieten,
der ewigen Herausforderung des Bösen zu widerstehen.


...Großflockige dichte Schneewirbel wehen ziellos durch die klirrende Kälte um einen eingeschneiten kleinen, verträumten runden Dorfplatz. Neben einem aus Stein gemauerten Brunnen, der tief ins Reich der Erde führt, steht eine hohe aus Bronze geschmiedete Dorflaterne. An ihrem oberen Ende, hinter klaren Glasscheiben geschützt, brennt eine Kerze, die mit ihrer aufrechten Flamme der heranschreitenden Abenddämmerung entgegenstrahlt. Rund um den kleinen verschlafenen Dorfplatz stehen vier Steinhäuser mit Dächern aus miteinander verschnürten Strohbündeln. Die überladenen Strohdächer knistern und knacken unter dem Gewicht des sich auftürmenden Schnees. Aus den Schornsteinen der Häuser entsteigt grauweißer Rauch, der vom Wind sogleich verweht wird. Am Strohdachende hängen lange Eiszapfen. Über den Eingangstüren der Häuser schaukeln leuchtend kleine brennende Laternen im Wind. In den Fenstern der Häuser ist flackerndes Licht zu erkennen. Gebilde aus gefrorenen Eisblumen verzieren ihre Fensterscheiben. Ein Haus ist die Werkstatt vom Schmied, das zweite die Werkstatt vom Schreiner, das dritte gehört dem Steinmetz. Das vierte Haus hingegen, mit angrenzendem Stall, ist der Volle Krug: ein kleines gemütlich eingerichtetes Wirtshaus mit zwei Zimmern für Gäste, die über Nacht verweilen wollen.

Da! Auf einmal ist das Gekrächze einer Krähe zu hören. Sie umfliegt das Wirtshaus auf der Suche nach einem geeigneten Landeplatz. Am Dachfirst setzt sie flügelflatternd, nicht genug Halt findend zur Landung an. Lautes Knacken geht durch den aufgetürmten Schnee, der auf dem Dach des Wirtshauses liegt. Ein großer Schneeblock löst sich vom Strohdach, rutscht mit dumpfem polterndem Geräusch hinunter vor das Wirtshaus und versperrt mit einem mannshohen Schneehaufen die Eingangstür des Vollen Krugs. Die vom herabstürzenden Schnee aufgeschreckte Krähe erhebt sich in die Luft und fliegt über die vom Wind hin und her wiegenden Baumkronen in die herannahende Dunkelheit davon.

Ein Fenster geht auf.
    
  »Fabrizius! Fabrizius!«, ruft eine eindringliche Frauenstimme durch das kleine Dorf.
    
  »Ja, was ist denn?«, erwidert jemand griesgrämig.
    
  »Wo steckst du?«, schallt die Frauenstimme erneut.
      
  »Ich bin im Stall, Rosalinde!«

  »Fabrizius, der ganze Schnee ist vom Dach heruntergerutscht und versperrt nun meine Eingangstür. Könntest du bitte den Schneehaufen beiseite fegen? Danach erwartet dich zum Aufwärmen ein Teller mit leckerer heißer Suppe und frisch gebackenes Brot!«
  
  »Jaja, wenn es unbedingt sein muss. Mit Ausnahme unserer Dorfbewohner wird sich bei diesem Sauwetter gewiss keiner zu uns ins Dorf auf den Weg machen!«, murrt Fabrizius grantig.
 
Er tritt mit seinem rechten Fuß schwungvoll von innen die große Stalltür auf. Ausgerüstet mit Schaufel und Strohbesen, läuft er ins Schneetreiben hinaus, hinüber zum Vollen Krug. Sein Äußeres macht einen abgemagerten, heruntergekommenen Eindruck. Die Kleidung ist zerlumpt, ausgebessert und gespickt mit bunten Flicken. Sein Gesicht ist vom Bart wild zugewachsen. Mürrisch vor sich her nuschelnd, schippt er gleichgültig den Schnee von der Eingangstür beiseite. Aus dem Inneren des Vollen Krugs sind Stimmen und lautes Lachen zu vernehmen. Ein schrilles Pfeifen ertönt, worauf abermals herzhafte Lachsalven anschwellen. In einer Ecke der Gaststube des Vollen Krugs knistern Holzscheite im lodernden Feuer eines Kamins. Wohltuende Wärme strahlt von ihm aus, die die klirrende Kälte draußen vergessen lässt. Nach einer Weile wird die Eingangstür energisch geöffnet. Fabrizius tritt herein und bleibt im Türrahmen stehen. Er nimmt seinen eingeschneiten Hut vom Kopf, schüttelt ihn aus und klopft sich dann mit ihm recht unbeholfen den übrigen Schnee von seinem zerlumpten Ziegenfellmantel.

  »M-m-man, w-w-willst du, dass w-w-wir uns er-k-k-kälten? Bei d-d-dem eisigen W-W-Wind, der von d-d-draußen rein b-b-bläst, f-f-fallen mir gleich alle F-F-Federn aus. Schließ b-b-bitte die T-T-Tür schnell w-w-wieder, Fa-br-br-brizius!«, ruft eine krächzende Stimme aus einem Vogelkäfig, der, an einer langen Kette befestigt, am Querbalken von der Decke über dem Ausschank hängt.

  »Halt dein Schnabel, du dummer Vogel, sonst ...!«, entgegnet Fabrizius.

  »Ja, was sonst, Fabrizius? Du rührst den Vogel nicht an, sonst bekommst du es mit mir zu tun!«, unterbricht Rosalinde, die Wirtin des Vollen Krugs, den aufbrausenden Fabrizius.

Rosalinde kommt hinter ihrem Ausschank hervor. Für eine Frau ist sie recht groß, rundlich und kräftig. In ihrer linken Hand hält sie den Teller Suppe für Fabrizius.

  »Schließe endlich die Tür und gib Ruh, Fabrizius. Setze dich auf den Schemel zu mir an den Ausschank. Du musst hungrig sein. Iss deine Suppe, bevor sie noch kalt wird.«
  
  »W-w-warte Rosalinde, ich habe auch n-n-noch ein P-P-Paar K-K-Körner für ihn. D-D-Damit er nicht vom F-F-Fleisch fällt, so d-d-dünn wie Fa-Fa-brizius ist!«, tönt erneut die Stimme aus dem Käfig.
   
  »Hahaha!«

Belustigt lachen die drei Meisterhandwerker aus dem Dorf, die an einem runden Tisch neben dem Ausschank sitzen und erheitert Karten spielen. Der Vogelkäfig pendelt leicht hin und her, wobei die Tür des Käfigs weit aufgesperrt steht. Auf einer Holzstange sitzt schaukelnd ein Beo-Vogel. Er hat ein glänzendes schwarzes Gefieder, weiße Streifen auf seinen Flügeln, gelbe Kopfzeichnungen und einen orangefarbenen Schnabel.

  »Rosalinde, wenn dein zugereister dummer Vogel nicht sofort seinen vorlauten Schnabel hält, dann setze ich ihn raus in die Kälte …!«, warnt Fabrizius gereizt.

  »Oh, oh, d-d-da k-k-kommt w-w-was B-B-Böses auf uns z-z- zu!«

Der Beo flattert angsterfüllt an die offene Käfigtür. In alle Richtungen dreht er aufgeregt seinen Kopf, ergründend, von wo er das Böse vermutet, das unaufhaltsam immer näher zu kommen scheint.

  »Ja, warte, ich bin das Böse und komme gleich auf dich zu!«, droht Fabrizius, seinen Suppenlöffel schwingend, dem Beo an.

  »Ich freue mich ü-ü-über s-s-so viel Z-Z-Zuneigung von d-d-dir, aber du bist es n-n-nicht, F-F-Fabrizius. Ich sp-spüre d-d-da kommt was w-w-wirklich B-B-Böses von d-d-draußen auf uns z-z-zu. V-V-Vertraut m-m-mir, ihr s-s-solltet euch alle s-s-sehr in A-A-Acht nehmen. I-I-Ich hau l-l-lieber ab und v-v-verstecke mich!«

Der Beo fliegt hoch in ein Loch unter dem Strohdach, um sich dort hinein zu verkriechen. Er dreht sich flink um und schaut ängstlich aus der Öffnung des Lochs hinunter in die Gaststube. Alle im Vollen Krug blicken verdutzt zum Beo nach oben unter das Strohdach. Auf einmal kracht die Eingangstür aus dem Türrahmen und fällt längs auf den Bretterboden, wobei sie in Einzelteile auseinanderbricht. Alle Köpfe drehen sich ruckartig zur zerbrochenen Eingangstür. Den drei Meisterhandwerkern fallen gleichzeitig die Spielkarten aus ihren Händen. Augenblicklich weht Schneegestöber herein und es wird schlagartig bitterkalt im Gasthaus. Ein Traben von Pferdehufen und ein bockiges Wiehern sind von draußen zu vernehmen.

  »Bei allen Göttern und Schattenwelten, was geht da draußen vor?«, ruft Rosalinde laut und aufgebracht...





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